Am 03. November letzten Jahres ging es für uns los: Zwei Mädels vom Dorf, gerade mal achtzehn verabschieden sich vollgepackt mit Koffern, Rucksäcken und Geigen von ihren Liebsten am Offenburger Bahnhof. Von da aus geht’s nach Frankfurt und dann: Ab in den Süden, auf der Flucht vor eisigem Wind und kaltem Winterwetter. Unser Ziel: Accra. Die Hauptstadt Ghanas im Westen Afrikas.

Die ersten Eindrücke dort ließen nicht lange auf sich warten. Kaum aus dem klimatisierten Flughafen in die feuchte Hitze der Nacht, ging’s mit anderen „Musikern ohne Grenzen“, die uns abholten, ins Taxi. Das Viertel des Flughafens sah gar nicht so fremd aus: Hohe Häuser, feste Straßen, Logos von Banken und bekannten Marken an den Fassaden, typisch Großstadt eben. Doch nach wenigen Minuten Fahrtzeit sah es schon anders aus. Die Häuser wurden kleiner, die Straßen schlechter, bis wir irgendwann ganz den Asphalt verließen und auf einem Weg entlang holperten, der in Deutschland vermutlich als wirklich schlechter Feldweg bezeichnet werden würde. Aus dem Staunen kamen wir gar nicht mehr hinaus. Links und rechts am Weg standen kleine Container von ca. 15m2, teils mit kleinen Schildern, die für Cola oder Frisuren warben. Die Frage ob das kleine Läden seien wurde mit: „Ja, aber die Besitzer wohnen auch oft da drin.“ beantwortet. Erwähnenswert dabei ist, dass es sich um ein „Viertel der Mittelklasse“ handelte. Und obwohl es (aus deutscher Sicht) mitten in der Nacht war (5 Uhr) waren schon Leute unterwegs, fegten vor ihren kleinen Hütten, trugen Waren auf dem Kopf oder liefen einfach an uns vorbei. Wie sich im Laufe unseres Aufenthalts herausstellte, ist das ganz normal. Viele Ghanaer fangen schon in der Nacht an, ihre Waren vorzubereiten und Essen zu kochen, machen sich auf den Weg zur weit entfernt gelegenen Arbeit, oder treffen sich zum Fußballtraining am Strand.

In den kommenden Tagen war das Staunen nicht geringer. Zwar hat man vieles schon vorher in Dokumentationen über das Land gesehen, aber dass es tatsächlich alles so ist, wie im Fernsehen, überraschte dann doch. Die anderen Musikerinnen, mit denen wir zusammen in einem oberen Stockwerk mit riesiger Dachterrasse in einem (aus ghanaischer Sicht) wohlhabenden Haus wohnten, zeigten uns den Alltag, stellten uns Freunden vor und am wichtigsten: fuhren mit uns zur Arbeit. Unser Fortbewegungsmittel, wie auch das, der meisten Einheimischen, ist das Tro Tro: ein Kleinbus. Lustigerweise tragen diese oft deutsche Aufschriften, wie „Helmut Schickinger Malerbetrieb“ und eine passende Adresse mit Telefonnummer, denn ein Großteil der Fahrzeuge kommen aus Europa. Was bei uns aussortiert wird, weil es nicht mehr über den TÜV kommt, oder einfach nicht mehr ganz so neu ist, wird in Länder des globalen Südens verfrachtet, dort wieder hergerichtet und weiterverwendet. So kam es auch vor, dass man in einem ehemaligen Transporter des Roten Kreuzes mitfuhr. Wer jetzt denkt, TroTro fahren, ist vergleichbar wie die Busse in Offenburg, hat sich geirrt. Tro Tros haben keinen festen Plan, sie kommen, wann sie eben gerade zufällig durchfahren und anhand des „Mates“, dem meist jungen Mann, der sich aus dem Fenster lehnt, eine bestimmte Geste macht und äußerst unverständlich ruft, wohin es geht, kann man dann feststellen, ob es das passende Tro Tro ist. Beim ersten Mal Fahren machte sich ein kleiner Anflug von Panik bei uns bemerkbar, dass wir es bald alleine schaffen müssen, in dem Trubel auf den Straßen, in den passenden Wagen zu steigen. Doch diese Angst hielt nicht lange an, denn in kürzester Zeit machte sich bemerkbar, dass die meisten Ghanaer unglaublich hilfsbereit sind. Wenn auch nur der leiseste Verdacht besteht, dass man als Weißer nicht ganz sicher ist, wo man jetzt hin muss, steht jemand zur Seite und bietet seine Hilfe an. Nicht selten hat man dann auch einen Begleiter für einen längeren Weg oder gar einen Ausflug. Das Tolle daran ist, dass das Gefühl des Willkommen Seins stets präsent ist und das ist auch von großer Bedeutung. Einer der wichtigsten Werte in Ghana ist die Gastfreundschaft. Dadurch fiel es auch nicht schwer, schnell lose Bekanntschaften zu machen und viel über die Kultur in Ghana zu lernen. Dabei spielten zusätzlich die Jugendlichen und Kinder mit denen wir arbeiteten eine große Rolle.

Die Aufgabe der „Musiker ohne Grenzen“ ist es, jungen Menschen die Möglichkeit zu bieten, Musik zu machen, obwohl sie aus benachteiligten Familien kommen. An verschiedenen Schulen und Libraries, Einrichtungen vergleichbar mit Gemeindezentren, geben wir manchmal morgens Musikunterricht, hauptsächlich aber nachmittags Instrumentalunterricht. Während die anderen Kids um einen umherwuseln, spielen wir mit einzelnen Kindern auf den Instrumenten, bis die nächsten dran sind. Im Anschluss wird noch gemeinsam herumgealbert und nicht selten erfährt man einiges über das Leben in Ghana. So kam es zum Beispiel auch einmal vor, dass auf dem Rückweg mit den Schülern zur großen Straße eine Kuh den Weg entlang getrieben wurde und zwar direkt auf uns zu. Während die Kinder schon in Sicherheit gerannt waren, riefen sie uns zu, kamen zurück und zogen uns an den Ärmeln, bis wir überhaupt merkten, was gerade geschah und die Beine in die Hand nahmen, um der bockenden Kuh und der Peitsche des Treibers nicht in die Quere zu kommen.

Mit den Schülern zu arbeiten, war eine ganz neue Erfahrung für uns zwei. Wir beide sind es eigentlich gewohnt mit Jugendlichen und Kindern zu arbeiten, doch in Ghana war es etwas anderes. Die freudigen Blicke vieler Schüler, wenn sie uns schon von weitem gesehen haben und der traurige Blick, wenn man ankündigte dass der Unterricht jetzt zu Ende sei, oder gar in der nächsten Woche nicht stattfinden würde, ließ das Herz aufgehen. Eine solche Wertschätzung von Kindern und Jugendlichen erfahren wir in Deutschland nur sehr selten, doch in Ghana ist es eben alles andere als selbstverständlich, dass die Kinder nachmittags ein spaßiges Hobby ausüben dürfen und nicht nur Zuhause arbeiten müssen.

Deshalb versuchten wir Reisen möglichst kurz zu halten und auf freie Tage zu legen, ausfallen lassen wollten wir sie keinesfalls. Trotzdem haben wir recht viel von dem kleinen Land gesehen.

Cosima hat sich im Vorhinein viel informiert, was man alles in ganz Ghana besichtigen und erleben kann und sich als Reiseführerin für alle Freiwilligen bewiesen. Somit konnten wir die abwechslungsreiche Naturwelt Ghanas hautnah miterleben. Die paradiesischen und teils menschenleere Strände an der Küste haben wir nicht nur unter den Palmen, sondern auch auf Surfbrettern und beim Schwimmen genossen. Den Regenwald konnten wir im Süden und der Mitte des Landes auf Touren durch die Bäume und an versteckten Wasserfällen, aber auch auf Hängebrücken über den Baumwipfeln zwischen Lianen bestaunen. Dabei entdeckten wir die verschiedensten Früchte beim Wachsen, zum Beispiel Kakao Bohnen, Papayas, Ananas und Bananen, die wir auch frisch vom Baum kosten durften. Außerdem Feucht- und Trockensavannen mit ihrer abwechslungsreichen Tierwelt. Etliche Affenarten, Antilopen, Wildschweine, Krokodile und unser beider Highlight: Elefanten bekamen wir von ganz Nahem zu Gesicht.

Doch nicht nur naturell hat das Land etwas zu bieten: Kulturell haben wir auf Ausflügen und auch Zuhause einiges erlebt. Von der Großstadt Accra über kleinere Städte bis hin zu kleinsten Dörfern und mitten im Nirgendwo haben wir überall mindestens eine Nacht verbracht und haben wir tolle Menschen kennengelernt, die uns tiefe Einblicke boten.

Beispielsweise bekamen wir die Möglichkeit an einer Beerdigung teilzunehmen. Das Event war jedoch keinesfalls mit einer deutschen Beerdigung gleichzusetzen, das Ganze ähnelte eher einem mehrtägigem Dorffest. Über drei Tage verteilt besuchten etliche Menschen aus der Nachbarschaft, der Familie und der Gemeinde der Verstorben den kleinen Platz im Freien und sangen und trommelten gemeinsam. Sicherlich wurde auch getrauert, doch diese Trauer wurde teilweise sehr eindrucksvoll im Tanzen ausgedrückt. Obwohl ein großer Teil der Einheimischen sehr streng christlich gläubig sind, oder gerade deshalb, wird der Tod nicht als etwas sehr Trauriges gesehen, sondern als Eintritt in eine neue Welt, in ein neues, vielleicht besseres Dasein und die zurückgebliebenen Angehörigen feiern ebendies.

An einem Tag im Norden des Landes bekamen wir wiederum einen Einblick in ein kleines, sehr muslimisch geprägtes Dorf. Dort besichtigten wir nicht nur die älteste Moschee Westafrikas von außen, sondern durften auch drei ältere Damen kennenlernen, die selbst Sheabutter herstellen und bekamen außerdem einen kleinen Einblick in Waisenhaus und die Arbeit mit den Kindern.

Gerade hier, wie auch an anderen Stelle unseres Aufenthaltes, bekamen wir auch die Schattenseiten des wirklich tollen Landes zu spüren: Das auf Spenden angewiesene Heim hat kein Geld um alle Kinder auf eine gute Schule zu schicken und somit werden die meisten Kinder in der öffentlichen Schule unterrichtet. Diese Schule bietet jedoch nicht die Möglichkeit für einen Klassenraum, geschweige denn Sitzbänke, Bücher oder Stifte. Auch die Ausbildung der Lehrkräfte ist sehr gering und die Schüler lernen oft nicht einmal richtiges Englisch, obwohl es die offizielle Landessprache ist, sondern sprechen ihr Leben lang nur die Stammessprachen, die sie von klein auf von ihren Eltern lernten.

An anderen Orten haben einige Kinder nicht einmal die Möglichkeit überhaupt zur Schule zu gehen, sondern leben auf der Straße und betteln. Einer der bedrückendsten Momente war, als ein Junge von ca. 9 Jahren fragte, ob wir ihm ein Wasser kaufen könnten, welches umgerechnet nicht einmal drei Cent kostete.

Wasser ist nämlich alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Nur wenige Menschen können es sich leisten, einen Zugang zu fließendem Wasser zu haben und leben von Wasser aus Brunnen. Selbst die Menschen, die es sich leisten können, haben oft nicht rund um die Uhr dieses Privileg, denn oft dauert es seine Zeit, bis die Speicher wieder umgefüllt werden.

Und auch an der idyllischen Natur ist nicht alles so schön, wie es auf Bildern oft aussieht. Außerhalb des Motivs liegt in den meisten Fällen Müll. Ganze Wiesen hängen voll mit Plastiktüten und an den öffentlichen Stränden sammelt sich ein Berg aus Plastik- und Stoffresten nach dem anderen. Vor allem in den armen Gegenden und Vierteln ist das ein großes Problem. In Nima, einem Stadtteil Accras, in dem wir auch an Schulen unterrichten, gibt es einen „Fluss“ in dem zumindest in der Trockenzeit kein Wasser fließt, sondern eine Art Müllsuppe vor sich hin blubbert. Aufgrund der fehlenden Infrastruktur kommt das meiste, was nicht mehr brauchbar ist, eben dort hinein, es ist also auch zeitgleich die Kanalisation. Das Erschreckende sind nicht nur die direkt daran angrenzenden Steinhütten, in denen die Menschen wohnen, sondern auch die Tiere, die dort leben. Auf trockenen Stellen stehen kleine Kuhställe und überall laufen Ziegen und Hühner frei herum und ernähren sich aus ebendieser Müllsuppe.

Menschen die in diesen Gegenden leben, so kam es uns vor, sind oft die Offensten und Hilfsbereitesten. Sie sehen nicht stets das Schlechte an ihrer Lebenslage, sondern helfen einander, damit sie ein möglichst angenehmes Leben haben, egal um wen es sich handelt. Nima zeichnet sich durch gemischte Religionen aus, wie das gesamte Land. Auf engstem Raum leben streng gläubige Christen mit streng gläubigen Muslimen und sie leben in Frieden. Es scheint dort völlig egal zu sein, an welchen Gott man glaubt, solange man Teil der friedlichen Gemeinschaft ist und das obwohl der Glauben die Menschen stark beeinflusst. Es ist keine Seltenheit, dass Menschen während des Gebetes mit geschlossenen Augen die Arme weit ausbreiten und gen Himmel strecken oder gar anfangen zu weinen. In seltenen Fällen kommt es auch vor, dass jemand während eines sehr gesangvollen Gottesdienstes in Ohnmacht fällt. Und der Glauben ist Teil des alltäglichen Lebens:

Unzählige Male sind wir von Predigten aufgewacht, die aufgenommen wurden und mit Lautsprechern in Taxis umhergefahren werden. Gottesdienste finden auch mitten in der Nacht statt, sodass man auch um ein Uhr nach Mitternacht noch Keyboards hört, begleitet von „In the name of Jesus!“ Rufen. Auch kam es vor, dass ein Tro Tro Prediger*in, die Fahrt begleitete, was auf Dauer sehr anstrengend sein kann, denn die Predigten geschehen meist in einer unüberhörbaren Lautstärke.

Jedenfalls ist es erstaunlich, wie friedlich die Menschen in Ghana zusammenleben und in jeder Lebenslage Zeit finden, die Gemeinschaft mit anderen zu suchen und gemeinsam zu singen, zu tanzen und zu lachen.

Trotz all unserer Erlebnisse und Eindrücke haben wir keine Antwort auf die Frage „Wie war‘s in Afrika?“. Afrika ist ein Kontinent, dreimal so groß wie Europa, Ghana allerdings nicht einmal so groß wie Großbritannien. Bei diesem Bruchteil, den wir vom großen Afrika gesehen haben, wagen wir es nicht, ein Urteil zu fällen über 55 Länder und unzählige Kulturen, Menschen und Landschaften. Eins lässt sich aber mit großer Bestimmtheit sagen:

Die Zeit in Ghana wollten wir niemals missen. Wir haben das Land als ein wirklich tolles Fleckchen Erde kennengelernt, in das wir super aufgenommen wurden und uns wohl fühlten, sodass es uns durchaus auch schwer fiel, in das geordnete Deutschland zurückzukehren.

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